Oberleitungsmessfahrten

Wie kann sich ein Übersetzer bei Oberleitungsmessfahrten auf der Eisenbahn geltend machen? Ihr Bahnexperte mit einem umfangreichen Hintergrund im Eisenbahnwesen – der kann das! Am 13. Oktober 2020 fand eine Messfahrt im Tunnel Ejpovice bei Pilsen statt, um die Parameter und Eigenschaften der Oberleitung bei einer Geschwindigkeit von 200 km/h zu überprüfen. Und ich war dabei sprachlich und sachkundig beschäftigt – ein Arbeits-Highlight des Herbsts 2020! Lesen Sie mehr zum Thema…

Meine Arbeit für Správa železnic – Schwerpunkt Diagnostik

Wie kommt denn ein Übersetzer – gut, der Bahnexperte – zu Oberleitungsmessfahrten? Und worum geht es bei so einer Fahrt überhaupt?

Meine Zusammenarbeit mit der tschechischen Bahnverwaltung (Správa železnic) läuft schon seit ein paar schönen Jahren. Es ist das tschechische Eisenbahninfrastrukturunternehmen, kurz EIU – international auch Infrastrukturmanager (IM) genannt.

In den letzten Jahren liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit für Správa železnic bei der Diagnosetechnik. Das ist ein ziemlich umfangreiches Thema, welches einen selbständigen Artikel verdient – deshalb werde ich diesen Post nicht damit vollstopfen. Der Zweck der Diagnosetechnik ist relativ klar: Mithilfe technischer Mittel, Sensoren, Messanlagen, digitaler Übertragungstechnologien und Systeme für die elektronische Datenverarbeitung (EDV) den Zustand von verschiedenen Komponenten, Anlagen, Fahrzeugen, Subsystemen etc. in Echtzeit zu ermitteln, Trends zu analysieren, Überschreitungen der Schwellenwerte zu detektieren und dadurch mögliche Probleme frühzeitig zu identifizieren. Durch diese Technologien und Verfahren erhöht man die Verfügbarkeit der Schieneninfrastruktur (ihr „Uptime“, oder Betriebszeit) und verringert den Umfang der Ausfälle, die sonst große Kosten und große Probleme auch für die Bahnkunden verursachen. Für eine moderne Bahn ist es daher quasi ein Muss.

Oberleitungsmessfahrten

Auch die Oberleitung braucht so eine Diagnose: Um einen perfekten Betriebszustand sicherstellen zu können, misst man bei der Oberleitung verschiedene Parameter, insbesondere die Fahrdrahthöhe über dem Gleiskopf und die sogenannte Zick-Zack-Lage, außerdem die dynamischen Parameter, d.h. Kontaktkräfte beim Zusammenwirken von Stromabnehmer und Oberleitung. All diese Parameter haben eine große Bedeutung für die mechanische Stabilität des Fahrdrahts und daher auch für die Sicherheit des elektrischen Bahnbetriebs. Es ist nicht nötig zu betonen, dass durch eine ordentliche Messung und Wartung viele Schaden, Störungen, Ausfälle und auch Unfälle vermieden werden können – wie eigentlich auch bei jeder anderen proaktiven Diagnose.

Messwagen der tschechischen Bahnen (Správa železnic); Foto: SŽ-CTD

So eine Messfahrt mit einem speziell ausgerüsteten Messwagen macht man bei der Übernahme eines neuen Baus (Streckenabschnitts), und dann auf den befahrenen Strecken- und Bahnhofshauptgleisen in regelmäßigen, durch technische Normen vorgeschriebenen Zeitintervallen (z.B. einmal im Jahr oder alle zwei Jahre).

Nur eine Oberleitungsmessfahrt – aber dafür eine besondere!

Bezüglich der Messfahrt im Tunnel Ejpovice bei Pilsen wurde ich von den Kollegen aus Správa železnic eigentlich schon in Frühjahr 2019 angesprochen (damals bezeichnete man die Organisation noch mit dem Kürzel SŽDC, deren Technische Abteilung TÚDC). Während dieser eineinhalb Jahre ist in Bezug auf die Messfahrten ziemlich viel passiert – und es gab einiges an Arbeit zu tun. Auf baulicher und technologischer Seite ging es um mehrere Vorprüfungen und Anpassungen. Organisatorisch musste man eine passende Messgarnitur beschaffen und um den Messzug auf der Strecke betrieben zu dürfen, musste man eine besondere Genehmigung vom staatlichen Eisenbahnamt anfordern. Warum so ein kompliziertes Vorgehen?

Dass der schönste Blick auf die Welt aus dem Pferdesattel ist? Wer hat so was behauptet? 🙂 (Kreuzung mit EC 333, Bf Velešín)

Wie ich schon erwähnt habe, handelte es sich um eine besondere Messfahrt. Die Erklärung liegt in einem Wort: Geschwindigkeit. Auf dem tschechischen Eisenbahnnetz kann man grundsätzlich maximal 160 km/h fahren – mehr erlauben die Schienen einfach nicht. Eine Erhöhung der Maximalgeschwindigkeiten ist jedoch immer in Sicht – und seit ein paar Jahren wird so eine Erhöhung auf 200 km/h in ausgewählten Streckenabschnitten schon vorbereitet. Dafür müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden und mehrere technische Parameter erreicht und überprüft werden – die Oberleitung ist dabei nur eine von vielen bautechnischen Komponenten.

Nun endlich zum Punkt: Ziel dieser Messfahrt – oder genauer gesagt dieser Serie von Messfahrten – war, die Bereitschaft der Oberleitung auf einem bestimmten Streckenabschnitt fürs Befahren mit einer erhöhten Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h zu überprüfen.

Messgarnitur ÖBB im Pilsner Hauptbahnhof: auf diesem Gleis starteten alle unseren Messfahrten (Foto: Michal Sovadina)

Dafür also all die Besonderheiten, all die Bemühungen, all die Genehmigungen, all die Verhandlung, Organisation und Kommunikation. Als Erstes musste man die Messgarnitur beschaffen – und zwar von der Österreichischen Bundesbahn ÖBB, da die tschechischen Messfahrzeuge nur bis 160 km/h tauglich sind. Zweitens – einen für alle Beteiligten passenden Termin aussuchen und bestätigen. Drittens mussten alle Umstände, Bedingungen und Voraussetzungen für die Messfahrten verhandelt und bestätigt werden. Viertens – verschiedene Unterlagen besorgen, wie eine Bestätigung der Befahrbarkeit, Lichtraumkompatibilität des Messwagens, Ausnahmegenehmigung zur Zu- und Rückführungsfahrt der Messgarnitur, Messergebisse der vorab durchgeführten Oberleitungsmessfahrten, oder auch die Abstellung der Messgarnitur sichern. Und, und, und…

Klingt schon überfordernd? Dann kommt Punkt Nummer fünf – die Beförderungsbedingungen und Betriebsvorkehrungen. Eine Zugtrasse für die Anfahrt muss her, eine für die Abfahrt, dazwischen fünf Zugpaare für die eigentlichen Messfahrten. Die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten für einzelne Streckenabschnitte. Kilometerlagen der maßgeblichen Punkte. Trennstellen und Neutralfelder auf der Oberleitung. Einschränkungen für die Ausfahrt mit Einfachtraktion und mit nur einem gehobenen Stromabnehmer. Fahrt im Bahnhofsabstand, Fahrtverbot für alle Güterzüge in einem Stromversorgungsabschnitt, um das Bahnstromnetz nicht zu überlasten. Vorsicht, Streckensperre bei der Anfahrt, daher ein Umweg über Prag. Eine weitere Verhandlung und Trassenänderung. Klingt es noch überfordernd, oder schon komplett surreal, das alles ins Deutsche übersetzen zu müssen?

Trotzdem war es eine wunderschöne und ganz schaffbare Herausforderung für mich. Eigentlich DIE Arbeit für mich! Als ehemaliger Fahrdienstleiter (siehe meine Urgeschichte) kenne ich mich schon „a bisserl“ aus – die Dienstvorschriften, Signale, verschiedene Begriffe aus dem Bahnbetrieb, verschiedene technische Besonderheiten etc. sind für mich nichts Unbekanntes. Und die allgemeine „Philosophie“ der Betriebsleitung funktioniert in Tschechien sehr ähnlich wie in Österreich – „bis vor kurzem“ waren wir ja eine Donaumonarchie.

Anfahrt, Messfahrt, Abfahrt

Und die tatsächliche Kirsche auf dem Sahnehäubchen – die Messfahrten selbst. Die Messgarnitur wurde speziell für diesen Anlass umgebaut (wie immer den Anforderungen entsprechend) und fährt aus Wien nach Linz mit nur zwei Lokführern. Dann übernimmt die ÖBB-Mannschaft – und der Zug fährt schon voll ausgerüstet und voll besetzt weiter. Budweis – Lokwechsel, die Vorspannlok BR 362 von ČD mit einem tschechischen Lotsen (kurze Erklärung: Das ist ein Lokführer mit Streckenkenntnis, der dann für die Zugführung verantwortlich ist). Pause für Jause – und Abfahrt.

Messung mit vollem Tempo: Messfahrt bei 200 km/h durch den Tunnel Ejpovice, 13.10.2020

Der 4. Transitkorridor Tschechiens – eine riesige Baustelle. Eingleisige Gleisschleifen. Neue zweigleisige Abschnitte. Das Böhmische Sibirien. Die letzte Korridorstation noch mit Formsignalen. Dann rollen wir schon Richtung Prag. Betriebsaufenthalt in Prag-Malešice auf der Güterumfahrung. „Hey, wie schaut´s am Hauptbahnhof aus? Lässt man uns fahrplanmäßig fahren? Oder sogar mit a bisserl Vorsprung?“ Ständig muss man unter allen drei Lokführern kommunizieren (d.h. natürlich zweisprachig), dann mit den Fahrdienstleitern, mit dem Organisationsstab. Wunderschönes Erlebnis von einer Durchfahrt über die Prager Verbindungsstrecken – wo man als „Zivilpassagier“ mit einem regelmäßigen Reisezug kaum hinkommt – und dann die „Panoramafahrt“ über die Moldau.

Jetzt folgt jedoch die Hölle auf Erden: die Hauptstrecke Prag-Beroun im Tal des Flusses Berounka. Schwer belastet mit der Prager S-Bahn, mit dem Fernverkehr, auch mit Güterverkehr, weil es sich um die einzige leistungsfähige Schienenverbindung aus Prag Richtung Westböhmen handelt. Dazu kommen aber noch aufgrund von Sanierungsarbeiten verhängte schwere Streckensperren mit eingleisigem Betrieb. Wirklich ein Wunder, da ohne erhebliche Verspätung durchzufahren!

Bf Rokycany – Wendepunkt unserer Messfahrten (und Herausforderung von vollem Betrieb!)


Rückfahrt beim Regen – Prag Hbf


Am zweiten Tag stehen wir früh auf – um 8 Uhr geht es schon los. Außerdem muss noch die Messgarnitur vorbereitet werden, die Mannschaft muss ihre Plätze einnehmen, den Funk ausprobieren. Für Aufnahmen wird noch eine Kamera auf die Lok installiert – und Abfahrt, los! 40 und Vorsicht! 40 und Frei! Nun 160 an der Geschwindigkeitstafel! Kurz nach der Haltestelle ist das Neutralfeld – und erst im Tunnel ab der speziell angebrachten Markierung auf 200 beschleunigen! Fünfmal hin und fünfmal zurück waren wir durch den Tunnel unterwegs – und maßen alle angeforderten Parameter. Ohne den kleinsten Mangel hat man alles geschafft. Erfolg!

Links und Berichte

Für mich persönlich waren die drei Tage auf dem Führerstand ein besonderes Erlebnis per se – anders kann ich das kaum beschreiben, als mit meinem Lieblingsspruch über die beste Modellbahn im Maßstab 1:1. Jedoch war es ohne Schmäh auch eine anspruchsvolle, harte Arbeit – ein vollständiger Dolmetschereinsatz, wobei neben den üblichen Sprach- und Akzentunterschieden etc. auch hohe Ansprüche auf die fachliche Korrektheit und Genauigkeit aller Angaben gestellt wurden. Meine Aufgabe war es, jegliche technische und betriebliche Kommunikation zwischen den Lokführern, den Prüftechnikern, den Oberleitungsspezialisten und dem Organisationsstab von beiden Seiten (SŽ und ÖBB) zu ermöglichen. Und bezüglich der Zugführung, erlaubter Geschwindigkeiten, maßgeblicher Punkte zum Anfang des Bremsens, Signalübertragung etc. handelte es sich in diesem Falle wortwörtlich auch um die Sicherheit des Zugverkehrs.

Team der ÖBB: Erfolg garantiert! Danke nochmal an alle! (Foto: ÖBB)

Die Messfahrten sind am Ende ganz reibungslos abgelaufen – wofür ein riesiger Dank Herrn Bernhard Zanon (ÖBB Innsbruck) mit seiner Mannschaft gehört. Sie haben wirklich exzellente technische Kompetenz, Kenntnisse und Professionalität bewiesen. Danke nochmals für alles, Herr Zanon!

Wie ich schon in meiner Urgeschichte eines Fdls erwähnt habe: Die Leidenschaft zum eigenen Beruf zu machen ist immer gut, oder?

Noch zu ergänzen sind ein paar externe Links zum Pressebericht, dem Video von der Messfahrt etc. (auf Tschechisch).

https://youtu.be/pkphZXyePPE

https://www.spravazeleznic.cz/-/sprava-zeleznic-otestovala-rychlost-200-km-h-v-ejpovickem-tunelu

https://zdopravy.cz/video-v-tunelu-ejpovice-jel-vlak-200-km-h-v-priprave-jej-207-km-trati-pro-tuto-rychlost-63345/

https://zpravy.aktualne.cz/ekonomika/doprava/ejpovicky-tunel/r~e24222ce0e2111eb80e60cc47ab5f122/

 

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